Alte Menschen oder Familien mit Kindern mit Behinderung, die täglich viele Stockwerke und Treppenstufen erklimmen. Frauen, die nach einem Aufenthalt im Frauenhaus wieder zum gewalttätigen Lebenspartner zurückziehen. Menschen, die mit Schimmel oder sogar Ratten unter Umständen leben, die ihre Gesundheit bedrohen. Unzumutbar, und doch - auch in Gießen - Realität. In den Städten und Ballungsgebieten ist Wohnraum ein knappes Gut geworden. Selbst für Menschen mit einem geregelten Einkommen wird es immer schwieriger, eine bezahlbare Wohnung zu finden. Für Menschen in einer schwierigen Lebenssituation oder mit sehr geringem Einkommen stehen die Chancen noch schlechter. Zusätzlich haben sie mit den steigenden Kosten für die Lebenshaltung zu kämpfen.
Auf ihre Situation wollen der Sozialdienst katholischer Frauen (SkF), der SKM Bundesverband und der Deutsche Caritasverband mit den diesjährigen Armutswochen aufmerksam machen. Die Aktion läuft vom 17. Oktober, dem Welttag zur Überwindung der Armut, bis zum 14. November unter dem Motto "Erreichbar - bezahlbar - machbar: Wohnraum schaffen für Armutsbetroffene".
Die Gießener Ortsverbände von Caritas und SkF bieten unterschiedliche Anlaufstellen für Menschen an, die in Notlagen sind. Finanzielle Not und fehlender Wohnraum sind nicht nur in der Sozialberatung Thema, sondern auch in der Migrationsberatung, der Schwangerenberatung und den Beratungsstellen bei häuslicher Gewalt. Die Beraterinnen und Berater stehen zunehmend hilflos zwischen der akuten Not der Hilfesuchenden einerseits und überlasteten Behörden und starren Regelwerken andererseits.
Was sind die dringendsten Anliegen? Brigitte Schütz, Beraterin in der Allgemeinen Lebens- und Sozialberatung beim Caritasverband Gießen e.V. und Zehra Özogul-Eraslan, Leiterin des SkF-Frauenhauses in Gießen:
(1) "KdU-Richtlinien flexibler gestalten": Die Sätze für die "Kosten für Unterkunft und Heizung", die der Landkreis den Jobcentern vorgibt, müssen unbedingt den tatsächlichen Kosten von Wohnungen angepasst werden. "Zwar werden die Heizkosten derzeit durchgewunken, aber die Richtwerte für die Bruttokaltmiete, die eine Wohnung kosten darf, passen nicht zum Markt. Dafür findet man keine Wohnung", sagt Brigitte Schütz.
Dass die starren Richtlinien zumindest kurzfristig kein Geld sparen, berichtet Zehra Özogul-Eraslan: "Sehr viele Klientinnen bei uns im Frauenhaus leben von ALG II. Ist die Kaltmiete für eine Wohnung nur fünf Euro teurer als in der Tabelle vorgesehen, darf eine Klientin nicht einziehen. Sie bleibt dann mit ihren Kindern länger im Frauenhaus, was deutlich mehr kostet und unsere Plätze für neue Notfälle belegt." Die durchschnittliche Verweildauer im Frauenhaus sei, auch wegen fehlender Wohnungen und finanzieller Schwierigkeiten der Frauen, auf sechs Monate gestiegen. "Ursprünglich ausgelegt sind die Notunterkünfte für Frauen mit Kindern auf etwa drei Monate."
(2) "Sozialen Wohnungsbau voranbringen": "Zu wenige neue Wohnungen entstehen, und immer mehr Sozialwohnungen fallen aus der Bindung heraus, so dass die Mieten steigen", sagt Brigitte Schütz. Benötigt werde vor allem angemessener Wohnraum für besonders verletzliche Gruppen wie alte Menschen oder Familien mit Kindern mit Behinderung.
"Viele Klientinnen im Frauenhaus entkommen der Gewalt nicht, weil Wohnraum fehlt, der zur Lebenssituation passt und bezahlbar ist", berichtet auch Zehra Özogul-Eraslan. Von 12 Frauen, die im Jahr 2021 im SkF-Frauenhaus mit ihren Kindern Zuflucht gesucht hätten, seien nur drei anschließend in eine eigene, neue Wohnung gezogen. Vier Frauen seien sogar wieder bei ihren gewalttätigen Männern eingezogen.
(3) "Bin ich antragsberechtigt?" Menschen mit kleinem Budget sollten jetzt unbedingt ihre Rechte im Blick behalten und sich darauf vorbereiten, Anträge auf Unterstützung zu stellen. Zum 1. Oktober verschicken viele Vermieter die Bescheide über die neuen Heizkosten, die deutlich teurer werden. Dadurch kommen viele Menschen in einen Einkommensbereich, mit dem sie einen Anspruch auf Arbeitslosengeld II (ALG II) oder Wohngeld haben. Dass sich der Wohngeldbetrag ab 2023 voraussichtlich deutlich erhöhen wird und auch mehr Menschen bezugsberechtigt sein werden, begrüßen die Verbände. Es sei ein Schritt in die richtige Richtung. Allerdings müssen die Menschen nun auch Anträge stellen. Auch für das neue Bürgergeld ab Januar 2023, bei dem im Regelsatz die höheren Stromkosten leider nicht adäquat berücksichtigt wurden, sollte frühzeitig überprüft werden, ob ein Leistungsanspruch besteht. "Wer jetzt noch nicht anspruchsberechtigt ist, wird es eventuell ab Januar und sollte unbedingt schnell tätig werden", sagt Brigitte Schütz.
(4) "Wohngeldstelle und Wohnberechtigungsschein": Die Wohngeldstelle ist überlastet, es dauert bis zu fünf Monate, bis ein Antrag bearbeitet ist. Die Kriterien, um einen Wohnberechtigungsschein zu bekommen, bauen zusätzlich hohe Hürden, denn wer ihn haben möchte, muss zuvor ein Jahr in Gießen gewohnt haben. "Die Leute nehmen unvorstellbare Zustände auf dem privaten Wohnungsmarkt in Kauf, um die Frist zu überbrücken. Ich spreche von verschimmelten Wänden und Ratten", sagt Brigitte Schütz.
(5) "Stromsperre": Es muss verhindert werden, dass Menschen der Strom abgestellt wird, weil sie mit der Zahlung im Rückstand sind. Aber klar ist auch, dass die Schulden dann nicht verschwinden. "Wir hatten den Fall einer Familie, die ALG II bekommt, bei der das Geld für den Schulbeginn aus dem Bildungs- und Teilhabepaket genutzt wurde, um die Stromrechnung zu bezahlen. So verschieben sich die Probleme nur weiter, denn viele haben keinen Puffer mehr", berichtet Brigitte Schütz.
(6) "Neue Qualität der Situation": Menschen, die in die Beratung kommen, können sich teilweise nur noch alle zwei Tage etwas zu essen leisten. Die Tafeln sind überlastet.
(7) "Kreative und kurzfristige Lösungen finden": Ein Projekt wie die "Wohnungspaten", die es beispielsweise in Augsburg gibt, könnte in Gießen kurzfristig zur Lösung des Problems beitragen. Die Wohnungspaten verfügen über eigene Netzwerke, die Klientinnen und Klienten nutzen können, weil sie selbst über keine verfügen. Sie helfen auch dabei, Bewerbungsmappen für die Wohnungssuche zu erstellen, die heute oft benötigt werden. Aus Sicht des SkF kann hier die Stadt mit einer kleinen Anschubfinanzierung, der Koordination Ehrenamtlicher oder mit Flyern viel bewirken.
Quelle: Sozialdienst katholischer Frauen e.V. Gießen und Caritasverband Gießen e.V.